Claviceps purpurea

Mutterkorn

(Fr.) Tul. 1853
Familie: Clavicipitaceae
© Dieter Gewalt
purpurea = in Purpur gekleidet

Beim Mutterkorn, das in den Ähren verschiedener Gräser heranwächst, handelt es sich um ein Sklerotium. Bei der Reife dieser Gräser fallen sie im Sommer oder Herbst mit den Samenkörnern auf den Erdboden und im kommenden Frühjahr wachsen aus ihnen kleine gestielt-kopfige Fruchtkörper, die zu den Ascomyzeten (Schlauchpilzen) gehören. Deren Sporen werden vom Wind verbreitet, gelangen in die Narben der Grasblüten, in denen sie auskeimen und neue Sklerotien bilden.

Auf abgefallenen Mutterkörnern entwickeln sich die winzigen Schlauchpilzchen (Foto: Fredi Kasparek)

Gelangen sie jedoch nicht im Feld auf den Erdboden sondern mit den Getreidekörnern ins Erntegut und schließlich ins Brot, können sie enormes Unheil anrichten. Ein Mutterkorn enthält eine beträchtliche Menge giftiger Alkaloide, die eine schwere Erkrankung namens Ergotismus verursacht. Kein anderer Pilz hat in der Geschichte der Menschheit so viele Todesopfer gefordert. Die Symptome einer Mutterkornvergiftung sind vielfältig. Es kann zu Darmkrämpfen und Halluzinationen kommen, Finger und Zehen sterben aufgrund von Durchblutungsstörungen ab, Atemlähmungen und Kreislaufversagen führen zum Tod.

Der erste belegte, epidemieartige Fall von Ergotismus trat im Jahr 857 bei Xanten auf. 65 Jahre später sollen europaweit (vorwiegend in Frankreich und Spanien) 40.000 Menschen an Mutterkornvergiftung gestorben sein. Damals war die Erkrankung als Antoniusfeuer oder heiliges Feuer bekannt. Im 15. Jahrhundert unterhielten die Johanniter etwa 370 Spitale, in denen bis zu 4000 Erkrankte versorgt wurden. Die Krankheit war so gefürchtet, dass Prozessionen und Zeremonien zu ihrer Abwehr zelebriert wurden.

Medizinische Bedeutung hat das Mutterkorn dagegen in der Geburtsheilkunde erfahren. In meiner Kindheit habe ich selbst noch Mutterkörner auf den Feldern gesammelt und an Apotheken verkauft, die aus ihnen eine die Geburtswehen anregende Medizin gewannen, die auch bei Schwangerschaftsabbrüchen zum Einsatz kam.

1943 gelang es dem Schweizer Chemiker Albert Hoffmann ein Derivat der Alkaloide zu isolieren, das Lysergsäurediäthylamid. Unter dem Namen LSD machte es eine ungeplante und völlig andere Karriere, nicht nur in der experimentellen Psychiatrie sondern auch als halluzinogenes Rauschmittel, von den Beatles in dem Titel Lucy in the Sky with Diamonds besungen, ein Zusammenhang, der vom Komponisten John Lennon heftig bestritten wurde.

Durch Mutterkorn verunreinigtes Getreide gelangt heute kaum noch ins Brot. Bereits vor der Ernte sorgt der Einsatz von Fungiziden für die Eindämmung des Mutterkornpilzes. Nach der Ernte werden die schwarzen Sklerotien durch Siebe, Aspiration und Auslesen entfernt, neuerdings sind auch Farben erkennende Auslesegeräte im Einsatz.

Mutterkorn ist auch an ganz normalen Gräsern zu finden, an denen es schlankere Sklerotien bildet.

Tipps zur Anzucht der kopfig-gestielten Fruchtkörper aus Mutterkörnern hat Fredi Kasparek auf https://www.natur-in-nrw.de/HTML/Pilze/Ascomycota/PAS-56.html gegeben:

„Nach jahrelanger vergeblicher Suche dieses Keulchens trotz Markierung der einschlägigen Stellen, kam ich auf die Idee, mehrere mit Mutterkörnern besetzte Ähren mit nach Hause zu nehmen und sie in einen Blumenkasten (die Ähren leicht mit Erde bedeckt) im häuslichen Garten unter Brombeergebüsch zu stellen. Bei länger anhaltenden Trockenperioden wurde der Blumenkasten mit Inhalt wie Blumen gewässert. Die Züchtung gelang problemlos wie die Abbildungen der kleinen fotogenen Keulchen zeigen.“

Auch ich habe bei mehrfachen Kultivierungsversuchen auf eine „Anzucht“ der Keulchen gehofft, bisher leider erfolglos.

Massenhaft Mutterkörner an Chinagras (Miscanthus sinensis) – 23.11.2017 Friedhof Westhausen

19.07.2019, Gebiet Schlosskaute zwischen Dietzenbach und Jügesheim, ein Roggenfeld am Waldrand: hier waren die Getreideähren so stark mit Mutterkörnern „verseucht“ wie ich es noch nie gesehen habe. Innerhalb weniger Minuten hatten wir die nachfolgend abgebildeten Ähren und Sklerotien eingesammelt. Entlang des Roggenfeldes hätten wir mühelos ein ganzes Säckchen mit den hochgiftigen Mutterkörnern füllen können. In diesem Zusammenhang sei auf eine etwa zeitgleiche Rückrufaktion der Lebensmittelhandelsketten REWE und Edeka hingewiesen. Sie betraf Roggenmehl der Marke „Mehlzauber“, in dem erhöhte Mengen an Ergot-Alkaloiden festgestellt worden waren.

Die Leiden durch die vom Mutterkorn verursachte Krankheit wird sogar im rechten Flügel des berühmten Isenheimer Altars von Matthias Grünewald aus dem Jahr 1516 dargestellt. Mitglieder des Antoniterordens hatten sich damals schon der Bekämpfung von Seuchen und Krankheiten gewidmet, darunter auch dem als „Antoniusfeuer“ bekannten Ergotismus.

Foto: © Jörgens.mi, CC BY-SA 3.0

https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=48730921

Im Stern berichtete ein Arzt von detektivischer Ursachenforschung bei einer Patientin, die über Muskelkrämpfe und starke Kopf- und Gliederschmerzen klagte. Nachdem zahlreiche Facharztbesuche zu keiner Diagnose geführt hatten, brachte ihn schließlich eine Aussage der Frau auf die richtige Spur. Sie erklärte, dass sie größten Wert auf gesunde Ernährung lege, kein Fleisch esse und ihre Lebensmittel überwiegend von einem kleinen Biohof bezog und dort gekauftes Getreide kiloweise zu Brot verarbeitete oder im Müsli aß. Diese Aussage führte dazu, die Ursache für die krankhaften Symptome im Getreide zu suchen, wobei sich herausstellte, dass der im Biohof verkaufte Roggen tatsächlich geringe Mengen Mutterkorn enthielt.

Weiterführende Literatur:

Alle Fotos, wenn nicht anders angegeben, von Dieter Gewalt.
Zuletzt aktualisiert am 26. Juli 2020