Von Rindswürsten und Grünlingen

Ein Erlebnisbeicht von Florian Haas, der zu denken gibt

Einmal die Woche gönne ich mir ein Kleinmarkthallenmenü. Dann gehe ich zur immer gleichen Metzgerei und bestelle meinen Klassiker: „Eine Rindswurst ohne Haut mit Brötchen, bitte.“ Und danach, weil sich das schlechte Wurstgewissen wieder gemeldet hat, gibt es zum Nachtisch ein biologisches Mandelhörnchen von „Querbeet“.

Mit der Wurst in der Hand lustwandle ich dann zwischen den Ständen umher und inspiziere die Rohmilchkäse, japanischen Messer und natürlich das Pilzangebot. Wie groß war da mein Erschrecken, als ich zwischen Steinpilzen und Totentrompeten ein kleines Körbchen mit Blätterpilzen entdeckte, über dessen Inhalt ein handgeschriebenes Schild mit der Aufschrift „Grünlinge“ (Tricholoma equestre) aufklärte. Wie jeder weiß, sind Pilze eigentlich nichts Ungewöhnliches im Lebensmittelsortiment einer Markthalle – nur giftige eben nicht! Doch genau das ist der Grünling, der für tödliche Vergiftungen in Frankreich verantwortlich war und der seit 2001 als Giftpilz nicht mehr verkauft werden darf. Darüber hinaus ist der Grünling in Deutschland stark im Rückgang begriffen, so dass er in der Roten Liste bedrohter Pilzarten steht und laut Bundesartenschutzverordnung nicht mehr gesammelt werden darf.

Mir lief es kalt den Rücken herunter – so kalt, dass ich mich trotz innerer Widerstände in das Büro der Marktaufsicht begab, um meinen giftigen Fund anzuzeigen. Doch weit gefehlt. Die Herrschaften dort fühlten sich nicht für Pilze zuständig: „So etwas haben wir schon einmal gemacht. Als wir da aktiv geworden waren, hatte uns hinterher das Ordnungsamt gesagt, das wäre nicht unsere Aufgabe und wir hätten damit nichts zu tun.“ Mit der Telefonnummer des Ordnungsamts auf einem Zettel verließ ich das Büro. Die Worte meines 7jährigen Sohnes klangen mir in den Ohren, der mir bei solchen Gelegenheiten immer vorhält: „Was man einmal angefangen hat, muss man auch zu Ende führen.“

Also begebe ich mich zu dem Stand der Gemüsehändlerin zurück und reklamiere höflich die Pilze. Meine unschuldige Frage, woher denn die Grünlinge stammen, bekam ich noch freundlich mit „Natürlich aus Deutschland“ beantwortet. Als ich dann aber das hässliche Wort Giftpilze fallen ließ, explodierte die Dame regelrecht: „Das kann nicht sein, den haben wir schon immer gegessen!“ – um mir dann im Gehen noch hinterher zu rufen: „Wenn Sie etwas Unterhaltung suchen, dann gehen Sie doch in die Großmarkthalle, da haben wir die Pilze her. Die geben Ihnen bestimmt gerne Auskunft.“

Verärgert über so viel Uneinsichtigkeit ging ich mit meiner inzwischen kalt gewordenen Wurst und ohne weiteren Appetit auf das obligatorische Mandelhörnchen in mein Büro zurück, von wo ich den Pilzsachverständigen der Stadt Frankfurt, einen Herrn Gewalt, anrief. Schnell wurden wir uns einig, dass in Sachen Grünling gehandelt werden muss. Ich rief beim Ordnungsamt an, während Herr Gewalt vom Gesundheitsamt ebenfalls ans zuständige Ordnungsamt verwiesen wurde. Man versicherte mir, dass der Sache noch heute nachgegangen werde. Dann hörte ich nichts mehr, bis mich Herr Gewalt nach einigen Tagen zurückrief und nachfragte, ob ich denn schon etwas gehört hätte. Genau wie er hatte aber auch ich keine Rückmeldung bekommen.

Nach einer guten Woche war wieder mal Zeit für eine neue Rindswurst. Als ich die Kleinmarkthalle betrat, schaute ich neugierig zu dem Stand der Gemüsehändlerin hinüber. Was ich da zwischen Feuerbohnen und den Paketen mit Grüner Soße entdeckte, war wenig erfreulich. Mein vertrautes Pilzkörbchen von letzter Woche, nur diesmal ohne Schild, stand immer noch da. Interessiert fragte ich die ältere Verkäuferin, die ich noch nicht kannte, was das denn für Pilze seien, worauf prompt die verschwörerische Antwort kam: „Das sind Grünlinge. Etwas ganz Besonderes, nur für den Pilzkenner. Junger Mann, aus denen kocht man eine Suppe.“ Ich hatte dazu gelernt. Das böse Wort Giftpilze ging nicht mehr über meine Lippen. Stattdessen erkundigte ich mich, was die inzwischen vertrockneten Pilze kosten sollten. „Alles zusammen für zwei Euro.“ Das war wirklich billig, verglichen mit den exorbitanten Preisen für Steinpilze. „Ja, und machen Sie sich keine Sorgen, das Ordnungsamt war heute Morgen auch schon da.“ Als ich ungläubig nachfragte, ob das Amt die Pilze nicht beanstandet hätte, bekam ich zur Antwort: „Kein Problem, zwei Stände weiter haben sie auch die Pilze.“

Das machte mich neugierig. Und tatsächlich, an dem italienischen Stand, wo ich in früheren Jahren schon die eine oder andere Trüffel für ein Spaghettigericht erstanden hatte, stand ein weiterer Korb, gefüllt mit in die Jahre gekommener Grünlinge, die ein Schild als „Butterpilze“ ausgab. Freundlich erklärte ich der Italienerin, dass Butterpilze über Schwämme verfügen und dass ich bei ihren Pilzen nur Lamellen erkennen könnte. Die Marktfrau blieb ungerührt und behauptete weiterhin steif und fest, sie würde hier Butterpilze verkaufen. Schnell begab ich mich wieder zu dem ersten Stand der Gemüsehändlerin und kaufte ihren gesamten Grünlingsbestand für zwei Euro auf. Die freundliche Verkäuferin ließ es sich nicht nehmen, in die Pilztüte noch reichlich Petersilie für die Suppe hineinzustecken. Als ich dann mit den Grünlingen zu Stand zwei lief, waren die „Butterpilze“ wie vom Erdboden verschluckt.

Zurück im Büro rief ich sofort das Ordnungsamt an, wo mir ein Herr T. bestätigte, dass am Morgen drei seiner Kontrolleure nach den Pilzen Ausschau gehalten hätten. Als ich anmerkte, dass ich nicht nachvollziehen könne, warum dies erst nach über einer Woche geschehen sei, wurde Herr T. unwillg: „Mit wem haben Sie da gesprochen? Wenn Sie mir keine Namen nennen können, kann ich das auch nicht überprüfen.“

Der Mann hat recht, dachte ich – und ärgerte mich darüber, dass ich mir nicht die Namen aller Mitarbeiter des Ordnungsamts und der Lebensmittelkontrolle notiert hatte, mit denen ich inzwischen telefoniert hatte – und das waren viele. Auf mein Nachbohren hin, dass doch auch schon Herr Gewalt vergangene Woche mit dem Amt telefoniert hätte, vernahm ich ein „Was bezwecken Sie denn damit? Wenn Sie Anzeige gegen die Händler erstatten wollen, gehen Sie doch aufs Polizeipräsidium Dezernat K 34.“

Ja, war das jetzt meine Aufgabe, Anzeige zu erstatten, nur weil das Ordnungsamt unfähig war, nach über einer Woche Giftpilze aus dem Verzehr zu ziehen? Nein, ich wollte keine Kleinmarkthändler, die von Pilzen keine Ahnung haben, verklagen. Wichtig war mir dagegen, dass das Ordnungsamt den Händler in der Großmarkthalle finden würde. Wer weiß, wer dort noch alles Grünlinge eingekauft hatte. Ich ließ nicht locker, bis mich Herr T. darüber aufklärte, dass man der Italienerin gesagt hätte, sie solle die Grünlinge vernichten. Hatte sie aber nicht.

Dann folgte eine weitere Frage von Herrn T., die mich zutiefst irritierte: „Woran kann man denn Grünlinge erkennen, was ist denn an den Pilzen so besonders?“ Ich verwies ihn auf das Internet und die einschlägige Pilzliteratur. „Und was ist so giftig an diesen Pilzen?“ wollte Herr T. jetzt auch noch wissen. Geduldig setzte ich ihm auseinander, dass er die Frage nicht mir zu stellen hätte sondern dem Pilzsachverständigen, der ihn gerne darüber aufklären würde. Je länger unsere Telefonkonferenz sich hinauszog, desto mehr wurde mir klar, dass die Lebensmittelkontrolleure die Grünlinge einfach nicht erkannt hatten. Herr T. hatte inzwischen sein Telefon laut gestellt, so dass ich im Hintergrund die Stimme einer Mitarbeiterin vernahm, die offenbar am Morgen mit von der Partie gewesen war. „Also hören Sie, die Pilze waren unten nicht nur grün, sondern auch schon ein bisschen braun.“ Kein Wunder nach einer Woche Lagerung im Körbchen in der Kleinmarkthalle!

(November 2008)