Haareis
Stellen wir uns vor, wir wären auf einem winterlichen Waldspaziergang. Temperatur ganz knapp unter 0°C. Unterwegs entdecken wir einen Meter vom Wegrand entfernt ein seltsames weißes Gebilde. Beim näheren Betrachten sind wir fasziniert von den filigranen feinen Fäden. Beim Berühren stellen wir fest, es sind Haare aus Eis. Onduliert wie eine Frisur und zerbrechlicher als dünnstes Glas. Bis 2008 war nicht einmal geklärt, wie so etwas entsteht. Es gab nur Vermutungen. Zum Beispiel schon 1918, als der Meteorologe Alfred Wegener einen schimmelartigen Pilz im Verdacht hatte, Verursacher des seltsamen Phänomens zu sein. Er war es auch, der die Plattentektonik für die Gestalt unseres Planeten verantwortlich machte, als die Lehrmeinung noch an Schrumpfungsprozesse glaubte. Er sollte in beiden Fällen Recht behalten.
Heute weiß man, dass es tatsächlich Aktivitäten von Pilzen sind, die Haareis entstehen lassen. Der Ast, auf dem diese Kunstwerke erscheinen, kann auf dem Boden liegen oder einige Zentimeter darüber schweben. Es muss ein Ast aus Totholz sein, und es sind die Pilzmyzelien, die im Holz wirken und nicht die Fruchtkörper, die eventuell auf dem Ast sitzen.
Bei ihrem Stoffwechsel werden Gase freigesetzt, die im Holz vorhandene Wassermoleküle an die Oberfläche transportieren. Hier müssen Lufttemperaturen knapp unter 0°C sowie eine gewisse Luftfeuchtigkeit herrschen, damit sich die haarfeinen Eisfäden quasi beim “Ausatmen” bilden können. Ist es kälter, gefriert die Nässe im Holz und kann nicht mehr austreten. Ist es zu warm, kann sie nicht gefrieren. Ist keine Luftfeuchtigkeit vorhanden, können sich keine Eiskristalle bilden. Schon geringfügige Temperaturveränderungen nach oben oder unten können die Eisfäden schmelzen oder zusammenbrechen lassen. Haareis ist also ein sehr kurzfristiges Phänomen. Um es zu erleben, muss man das Glück haben, zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort zu sein. Und ein Auge und Gespür für die Wunder der Natur.
Auf der Homepage des Deutschen Wetterdienstes findet sich der Hinweis, dass der Wachskrustenpilz Exidiopsis effusa für das Phänomen Haareis verantwortlich sein soll.
(Januar 2022)
Am 1. Dezember 2024 waren wir bei einer pilzkundlichen Exkursion in einem Wald nordwestlich von Dietzenbach unterwegs. Als wir einen Jungbuchenbestand am Butterpfad erreichten, trauten wir unseren Augen nicht. Auf einer Fläche von etwa 200 Quadratmetern wimmelte es am Boden nur so von weißen Flecken, die sich als Haareis entpuppten. Es waren mit Sicherheit mehr als hundert. Einige waren sogar an Stämmchen in bis zu einem Meter Höhe zu sehen.
Die Temperaturen lagen an diesem nebligen Morgen knapp unter dem Gefrierpunkt, ein Umstand, der zweifellos die Haareisbildung begünstigt hat. Der 12-jährige Béla Salgo kam auf die Idee, eine Geschmacksprobe zu wagen und stellte eine deutlich bittere Note fest. Weitere Kostproben ergaben sowohl eine Bestätigung der Bitterkeit als auch „wie reinstes Wasser, nur eben eiskalt“. Vielleicht ist diese auffällige Diskrepanz mit der Anwesenheit zweier Pilzarten mit unterschiedlichen Ausdünstungen zu erklären.