Die Pilzrentner von der Rüttewies

von Florian Haas

In meinen Ferien im Hotzenwald lebe ich gesund. Den Tag beginne ich mit einem frühmorgendlichen Waldlauf. Kreuze ich den Parkplatz Rüttewies* sehe ich Tag für Tag die Mittelklassewagen mit Zürcher Kennzeichen. Mal sind es zwei mal fünf Fahrzeuge - das hängt ganz vom Wetter ab. Dann laufe ich den Hang hinunter. Unten am Moor treffe ich auf die ersten älteren Herren, die mit langen Stöcken im Unterholz wühlen. Was sie alle verbindet, sind ihre Gummistiefel, die großen Körbe, ihre beinduckend professionelle Outdoor-Bekleidung und ihr Schweizer Dialekt. Das geht jetzt schon seit über zehn Jahren so, und irgendwie sind mir die Herren inzwischen auch ans Herz gewachsen. Schon vor Jahren hat mir einer von ihnen freimütig erzählt, dass er aus Zürich komme und ein „Rentier“ sei. Jeden Morgen um fünf Uhr breche er dort auf, um auf der Rüttewies Steinpilze zu sammeln.

Das „Waldreinigungsteam“ ist gründlich. Bei der allmorgendlichen Sammelwut sollte dort kein Fetzen Myzel mehr übrig geblieben sein. Doch die Hoffnung stirbt zuletzt.

Heute Morgen habe ich meine Rentner in einer Schonung entdeckt. Da wollte ich es einmal genauer wissen und einen Blick in ihre großen Flechtkörbe werfen. Was ich da zu Gesicht bekam, war bestürzend. Die meisten der Pilzexemplare hatten ihre besten Tage schon gesehen und waren wie ihre Sammler ins Rentenalter gekommen. Auch die Menge des Sammelguts überschritt bei Weitem die erlaubte Obergrenze von einem Kilogramm pro Person. War in manchen Jahren der Wald voller Steinpilze, tauchten auch die Enkel der Rentner auf dem Parkplatz auf. Aber warum nur? Wollten meine Rentner ihr „Pilzsuchhandwerk“ an die nächste Generation weitergeben. Weit gefehlt. Bei einer Pilzschwemme geht es darum, die Beute zu sichern und die zulässige Pilzmenge auf möglichst viele Personen zu verteilen.

Ich habe das mal durchgerechnet. Zürich - Rüttewies und Retour sind etwa 150 Kilometer. Ein Mittelklassewagen benötigt dafür etwa 12 Liter, was bei den aktuellen Benzinpreisen mit ca. 27 € zu Buche schlägt. Gebe ich dann die Parameter noch in einen CO2-Rechner ein, komme ich auf einen CO2-Ausstoß von 12,30 kg. Laut meinem Rechner ließe sich das mit 0,21 Quadratmeter Regenwald kompensieren, zu dessen Schutz der Verursacher 0,21 € spenden müsste. Vielleicht wäre es da eine Idee, auf dem Parkplatz Rüttewies eine “CO2-Spendenbox” für meine Rentner aufzustellen. Kleinvieh bringt auch Mist.

Unter Berücksichtigung aller weiteren Nebenkosten, die für ein Fahrzeug anfallen, komme ich auf ca. 50 € pro Tour. Das ist ein stolzer Preis für ein Kilogramm Steinpilze zweifelhafter Qualität, denn mehr als ein Kilogramm Wildpilze pro Person zu sammeln ist nicht erlaubt. Und dafür wird seit vielen Jahren der Wald um die Rüttewies geplündert.

Es kommt noch schlimmer. Während meine Rentner auf ihrem Nachhauseweg sind, setzt sich eine zweite „Pilzsammlerwelle“ aus dem Aargau und Zürich in Bewegung, um die Rüttewies heimzusuchen. Ebenfalls mit dem obligatorischen Pilzstock, Outdoorkleidung und Korb ausgerüstet geht es zur Nachsuche und das genau an den Plätzen, die kurz zuvor meine Rentner geräumt haben. Auf meinen Recherchen zu dem Artikel habe ich Fotos von Pilzsuchern mit Stöcken gemacht. Persönlich auf den Bildern zu erkennen ist dabei keiner der Goldsucher.

Ein Ehepaar fühlte sich von mir belästigt und fragte mich, was ich da mache. Worauf ich antwortete, Bilder für eine Recherche zu sammeln. Hierauf erwiderte der ältere Pilzsammler in Schweizerdeutsch zu mir: „Sie dürfen keine Fotos machen. Ich zeige sie an.“ Ich bin verwundert, wo will mich der Goldgräber denn anzeigen? „Geben sie mir sofort ihre Kamera!“, rief er mir gebieterischer Stimme zu. Der Mann machte das nicht zum ersten Mal, der wusste, wie man mit Subalternen umzugehen hatte. Aber zum wundern blieb mir nicht viel Zeit, denn der Mann drohte mir: „Dich hau ich mit dem Stock auf den Kopf“. Gesagt getan - stockschwingend wurde ich unter unflätigen Fäkal-Beschimpfungen verfolgt. Mein einziger Vorteil war, dass ich durch meine Waldläufe fit genug war, um mir den Herren vom Hals zu schaffen.

* Die Rüttewies ist ein Weiler im Schwarzwald, südlich von St. Blasien gelegen.

(September 2022)