Flechten

von Dieter Gewalt

Was eine Flechte ist, glaubt fast jeder zu wissen, doch nur wenige sind in der Lage, auch nur eine der etwa 2.000 verschiedenen in Mitteleuropa vorkommenden Arten beim Namen zu nennen. Auch was Flechten genau sind, ist kaum jemandem bekannt. Die Erklärung, dass es sich um eine Symbiose von Pilz und Alge handelt, hilft da auch nicht viel weiter. Daher möchte ich versuchen, dem interessierten Naturfreund diese auf den ersten Blick so unattraktiv wirkenden Organismen anhand einer überaus häufigen Flechtenart ein wenig vertrauter zu machen. Es handelt sich um die Gewöhnliche Gelbflechte Xanthoria parietina, die in der Nähe eines jeden Mitteleuropäers zu finden sein dürfte. Man braucht sich nur die Rinde von Bäumen und Sträuchern und deren Stämme und Äste zu betrachten.

Nur wenige Meter von meiner Haustür entfernt werde ich bereits fündig. In einer Heckenrabette an einem Gitterzaun sind die Stämmchen, Äste und selbst dünnste Zweige zu einem großen Teil üppig mit ihr bewachsen:

Wie in allen Bereichen der Natur ist es erforderlich, für die Beschreibung verschiedener Arten ein paar Fachausdrücke zu kennen und zu verstehen. Der gesamte Frucht- oder Vegetationskörper einer Flechte wird Lager oder Thallus genannt. Nach dessen Form und dem Substrat, auf dem sie wachsen, werden drei verschiedene Flechtentypen unterschieden. Die Gewöhnliche Gelbflechte gehört zu den Blattflechten und wächst auf der Rinde verschiedener Baum- und Straucharten, seltener auch an Holzpfählen, Mauern oder Steinen. Ihre flächigen Lager bestehen aus lappenartigen Blättern, sind mehrfach mit speziellen Haftorganen auf ihrem Substrat angewachsen und lassen sich als Ganzes ablösen. Auf ihnen sind becherartige Scheibchen zu sehen, die allerdings nur mit einer gut vergrößernden Lupe deutlich erkennbar sind. Diese tragen die Fruchtschicht, das sogenannte Hymenium, in dem die für die geschlechtliche Fortpflanzung zuständigen Sporen gebildet werden. Sporen sind bei Pilzen und Flechten das, was wir bei den Pflanzen Samen nennen. Sie sind allerdings mikroskopisch klein, nur einige Tausendstel Millimeter groß. Bei der Gewöhnlichen Gelbflechte sind Lappen und Apothecien von gelber, gelboranger oder auch gelblich grüner Farbe, die Unterseite ist grauweiß.

Betrachtet man eine Flechte mit einer gut vergrößernden Lupe, gewinnt man einen Eindruck von der faszinierenden Schönheit vieler Arten, so auch der Gewöhnlichen Gelbflechte:

Abbildung links: Lappen / rechts: scheibenförmige Apothecien

Bei der grauen Flechte, die fast überall in Begleitung der Gewöhnlichen Gelbflechte vorkommt, handelt es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um die Sulkatflechte Parmelia sulcata.

An und auf den Blättern von Flechten (auch Lappen oder Loben genannt) finden sich bei manchen Arten kleine krümelige Strukturen, die Sorale genannt werden. Je nachdem, wo sie sich auf den Lappen befinden, unterscheidet man strichförmige, Borten-, Lippen-, Kopf-, Punkt-, Helm- oder Kugelsorale. Flechten mit Soralen werden als „sorediös“ bezeichnet. In ihrer Struktur sind sie nur bei starker Vergrößerung (Lupe) etwas genauer sichtbar:

Lappen mit Fleck- und Bortensoralen einer Punctelia jeckeri: stark vergrößert erkennt man rundliche staubartige Partikel, die sogenannten Soredien

Auf ihnen entwickeln sich sogenannte Soredien, die der vegetativen (ungeschlechtlichen) Vermehrung dienen und bei Reife vom Wind gelöst und verbreitet werden. Zur Unterscheidung von Flechtenarten sind sie von Bedeutung. Sie können vorhanden sein oder grundsätzlich fehlen.

Ebenfalls nur mit gut vergrößernder Lupe sind Isidien und Rhizine wahrzunehmen. Isidien sind unterschiedlich geformte Auswüchse auf den Blattoberseiten, die spatelförmig bis keulig, koralloid, warzenartig oder einfach bis verzweigt zylindrisch geformt sind. Sie können sich leicht ablösen und vom Wind weggetragen werden, um sich an anderer Stelle zu neuen Flechten zu entwickeln. Auch hierbei handelt es sich um eine Form der ungeschlechtlichen Vermehrung. Rhizine sind dorn- oder wurzelartige Haftfasern an den Blattunterseiten, mit denen die Flechte am Substrat befestigt sind. Beim Substrat kann es sich um Baumrinde, Holz, Moos, Erdboden, Mauern, Beton, Gestein, Asphalt oder sogar Metall handeln.

Flechten sind eine Lebensgemeinschaft (Symbiose) aus einem Pilz und einer Alge, in der beide Partner voneinander profitieren. Den weitaus größten Anteil am Vegetationskörper hat der Pilz, bei dem es sich überwiegend um Schlauchpilze (Ascomyzeten) handelt, weshalb Flechten in der Systematik der belebten Natur zu den Pilzen gehören. Bei ihren Symbiosepartnern handelt es sich um Grünalgen und Cyanobakterien (Blaualgen), die zur Fotosynthese fähig sind und so zur Nahrungsbeschaffung beitragen. Dabei wird CO2 gebunden und Sauerstoff freigesetzt. Darüberhinaus schützen sie den Pilz vor Wasserverlust und starker Sonnenbestrahlung.

Mit Hilfe der Symbiose haben die beteiligten Pilze und Algen/Cyanobakterien ihre ökologischen Möglichkeiten erheblich erweitert und sind in der Lage, Standorte zu besiedeln, die sie allein nicht erfolgreich einnehmen könnten.” (Ulrich Kirschbaum / Volkmar Wirth 2010)

Dazu gehören die lebensfeindlichsten Standorte wie nackte Felsen und Regionen wie die Antarktis, in der an die hundert Flechtenarten gedeihen. Weltweit sind etwa 25.000 bekannt. Entgegen einer weit verbreiteten Einschätzung fügt eine Flechte ihrem pflanzlichen Substrat, an dem sie wächst, keinerlei Schaden zu. Es dient ihr nur als Auflage, in die sie nicht eindringt und ihr weder Wasser noch Nährstoffe entzieht.

Eine grobe und völlig unsystematische Einteilung der Flechten kann man nach Form und Anwuchsart am Substrat in Blatt-, Strauch- und Krustenflechten vornehmen, was dem beobachtenden Naturfreund durchaus entgegenkommt und ihm einen unkomplizierten Einstieg in die Lichenologie ermöglicht. Eine nützliche Hilfe beim Bestimmen einzelner Aerten sind chemische Reagenzien, vor allem Kalilauge (KOH) und p-Phenylendiamin (PPD), die leicht anzuwenden sind und arttypische Farbreaktionen auf den Thallus oder anderen Bestandteilen einer Flechte zeigen. Viele Arten verändern bei Befeuchtung ihre Farbe von einem unscheinbaren Grau oder Braun zu leuchtenderen, helleren Farben. Daher sollten an Flechten interessierte Naturfreunde, die ihre Funde bestimmen möchten, außer einer Lupe und einer scharfen Rasierklinge auch eine Sprühflasche mit Wasser dabeihaben. Manche unauffälligen Flecken zeigen überhaupt erst nach dem Besprühen, dass es sich um eine Flechte handelt.

Blattflechten, gelegentlich auch Laubflechten genannt, bestehen aus unterschiedlich geformten blattartigen Lappen (auch Loben genannt). Sie sind mit mehreren Haftorganen (Rhizinen) lose an ihrem Substrat angewachsen. Sie können daher leicht als Ganzes abgelöst werden. Typische und häufige Blattflechten sind zum Beispiel:

Abb. links: Gewöhnliche Gelbflechte Xanthoria parietina (hier zusammen mit Physcia adscendens) -- Abb. rechts: Sulkatflechte Parmelia sulcata (zwischen Moos)
Abb. links: Linden-Schüsselfleche Parmelina tiliacea -- Abb. rechts: Jecksers Punktflechte Punctelia jeckeri

Strauchflechten im engeren Sinne sind dagegen nur mit einem Haftorgan am Substrat angewachsen und von da aus vielfach strauchartig verästelt. Auch sie können leicht abgelöst werden.

Abb. links: Pflaumenflechte Evernia prunastri -- Abb. rechts: Gabelflechte Pseudevernia furfuracea

Zu den Strauchflechten gehören auch die sogenannten Bartflechten und Arten der Gattung Cladonia (z. B. Rentier- und Becherflechten). Bartflechten bestehen aus fädigen herabhängenden Elementen und kommen vor allem in Regionen mit hoher Luftfeuchtigkeit (Regenwälder) vor. Es gibt nur wenige einheimische Arten in der Gattung Usnea.

Abb. links: Gewöhnlicher Baumbart Usnea filipendula (hier zusammen mit einer grauen Blattflechte) -- Abb. rechts: Rotfrüchtige Säulenflechte Cladonia macilenta (mit roten Apothecien)

Die Gattung Cladonia enthält einige besonders attraktive Arten. Flechten mit roten Käppchen oder „Früchtchen“ zu finden, ist kein häufiges Erlebnis, aber Anlass zum genaueren Hinschauen und Staunen.

Krustenflechten unterscheiden sich deutlich von den übrigen Flechtenarten, indem sie flächig und fest mit ihrem Substrat verbunden sind. Sie besitzen keine speziellen Haftorgane, lassen sich also auch nicht als Ganzes ablösen. Man kann sie höchstens abkratzen. Viele wachsen auf Gestein oder Beton. Zwei typische und häufige Vertreter sind:

Abb. links: Mauer-Flechte Lecanora muralis auf Gehwegplatten -- Abb. rechts: Zitronen-Schönfleck Flavoplaca citrina an Betonwand

Zu den an Baumrinde wachsenden Krustenflechten gehören:

Abb. links: Silbrige Kuchenflechte Lecanora argenta -- Abb. rechts: Schriftflechte Graphis scripta

Im Fundkorb sind folgende Flechtenarten mit Porträts vertreten:

Blattflechten:
Cladonia digitata = Finger-Scharlachflechte
Cladonia fimbriata = Trompeten-Becherflechte
Cladonia macilenta = Rotfrüchtige Säulenflechte
Flavoparmelia caperata = Eichenflechte
Hypogymnia farinacea = Mehlige Blasenflechte
Hypogymnia physodes = Gewöhnliche Blasenflechte
Hypogymnia tubulosa = Röhrige Blasenflechte
Melanelixia grablatula = Samtige Braunflechte
Melanelixia subaurifera = Gold-Braunflechte
Parmelia sulcata = Sulkatflechte
Parmelina tiliacea = Linden-Schüsselflechte
Physcia adscendens = Helm-Schwielenflechte
Platismatia glauca = Blaugraue Tartschenflechte
Pleurosticta acetabulum = Essigflechte
Punctelia jeckeri = Jeckers Punktflechte
Xanthoria parietina = Gewöhnliche Gelbflechte

Strauchflechten:
Evernia prunastri = Pflaumenflechte
Pseudevernia furfuracea = Gabelflechte
Usnea filipendula = Gewöhnlicher Baumbart
Usnea glabrescens = Verkahlender Baumbart

Krustenflechten:
Arthonia atra = Schwarze Zeichenflechte
Chrysothrix candelaris = Borken-Schwefelflechte
Flavoplaca citrina = Ztronen-Schönfleck
Graphis scripta = Schriftflechte
Lecanora argentata = Silbrige Kuchenflechte
Lecanora muralis = Mauer-Flechte
Pertusaria pertusa = Gewöhnliche Porenflechte
Phlyctis argena = Weiße Blatternflechte

Anhang: Flechte der Jahre 2004 bis 2024:

2004 Xanthoria parientina
2005 Usnea hirta
2006 Flavoparmelia caperata
2007 Cetraria islandica
2008 Letharia vulpinia
2009 Cladonia rangifera
2010 Dibaeis baeomyces
2011 Fulgensia fulgens
2012 Lobaria pulmonaria
2013 Peltigera didactyla
2014 Rhizocarpon geographicum
2015 Psilolechnia lucida
2016 Icmadophila ericetorum
2017 Variospora flavescens
2018 Umbilicaria cylindrica
2019 Parmotrema perlatum
2020 Cladonia digitata
2021 Lecanora muralis
2022 Enchylium tenax
2023 Cladonoa rangiformis
2024 Normandina pulchella

Weiterführende Literatur:

  • WIRTH, V. (1995): Die Flechten Baden-Württembergs, 2. Aufl., 1006 S.; Ulmer, Stuttgart
  • Kirschbaum U. & Volkmar Wirth (2010): Flechten erkennen - Umwelt bewerten
  • Wirth, V. et al. (2011): Rote Liste der Flechten und flechtenbewohnende Pilze Deutschlands
  • https://de.wikipedia.org/wiki/Flechte
Alle Fotos, wenn nicht anders angegeben, von Dieter Gewalt.
Zuletzt aktualisiert am 13. April 2024